Human Centered Urban Spaces

Seit geraumer Zeit verfolge ich Diskussionen zu „Liveable Cities“, die mir immer wieder und in verschiedensten Kontexten begegnen. Die Diskussionen werden aufgeworfen von Architektinnen oder Raum- und Stadtsoziologen, Personen aus dem Bibliothekswesen (z.B. Network for Libraries in Urban Spaces) oder einfach Menschen, die sich fragen: Was macht eine Stadt für uns zu einer für uns geeigneten Umwelt? Wo fühlen wir uns wohl und warum? Wie füllen wir Städte mit Leben?
Ich möchte im Folgenden einige Beobachtungen, Begrifflichkeiten und Fragestellungen zusammenfassen, um erst einmal eine Ausgangsbasis für die Diskussion zu entwickeln. Ich werde mich dabei in der Begrifflichkeit in weiten Teilen am Webdesign und am Design Thinking orientieren (weil deren Begriffe aus meiner Sicht sehr nützlich für die vorliegende Diskussion sind).

Human oder User Centered?
Ich habe mich bewusst für Human Centered entschieden, weil für mich das (Stadt-)Raum-Erleben von mehr als nur der Perspektive der Nutzung abhängt. Wir sind nicht nur KundInnen oder NutzerInnen mit einem spezifischen Spektrum an Zielen unserer Handlungen, sondern wir nehmen unsere Umwelt wahr bedingt durch Tagesverfassung, Stimmung, persönliche Erfahrungen etc. Das stellt Herausforderungen an beispielsweise die Entwicklung von Personas.

Persona-Biographien
Wenn wir über nachhaltige Stadtentwicklung sprechen und über lebenswerte Städte, dann bedeutet das für mich, dass eine Stadt mir als Wohn- und Lebensort nicht nur für einen bestimmten Ausschnitt meines Lebens die passende Umwelt bietet, sondern in vielen (möglichst allen) Lebensphasen. Das heißt aber auch, dass wir nicht nur einzelne Personas entwickeln, sondern auch mögliche Abfolgen von Personas mitdenken müssen. Aus Studierenden werden Berufstätige, irgendwann vielleicht Eltern oder Kinderlose mit anderen Arbeits- und Freizeitmustern, diese wiederum werden hoffentlich SeniorInnen mit wieder anderen Ansprüchen an ihre Stadt. Es reicht nicht, nur einzelne denkbare Personas zu entwickeln, sondern es muss mitgedacht werden, wie die Übergänge ablaufen. Nur wenn wir uns darüber Gedanken machen, verstehen wir besser, was Menschen dazu bewegen könnte, mit beispielsweise Ende 60 das Einfamilienhaus am Stadtrand aufzugeben, dieses also für junge Familien freizugeben und in eine barrierefreie Wohnung in die Stadtmitte zu ziehen. Nebeneinander stehende, losgelöste Personas reichen nicht aus, diese Übergange zu verstehen und eine Stadt zu gestalten, die Übergänge einfacher macht. (Ich möchte jedoch nicht nur auf „Dichtestress“ und bessere Raumnutzung hinweisen, sondern auch auf schrumpfende Städte und das Potential zur Nutzung von Leerständen)

Identität und Identifikation
Es geht aus meiner Sicht nicht nur darum, den Bedarfen der Bevölkerung einer Stadt gerecht zu werden, sondern auch den Bedürfnissen. Es geht nicht nur darum, wie bereits oben geschrieben, den Nutzen und die Nutzbarkeit (Usability) im Auge zu haben, ein Gelände barrierefrei zu gestalten. Sondern auch darum, Anreize für Identifikation jedes Einzelnen mit der Stadt und somit eine Stadtidentität zu schaffen. In meiner Dissertation habe ich am Beispiel von Bibliotheken Facetten von Einschreibungen in den Raum vorgestellt, die sich zu einer raumbezogenen Identität zusammenfügen, die sich auch auf Städte übertragen lassen:

(1) Sinn zuschreiben: Wir lesen Einschreibungen in den Raum, wir verstehen die Symbolik von Gebäuden, Plätzen, architektonischen Artefakten. Folgt man Marc Augé zeichnen sich Orte durch diese Einschreibungen aus, durch „Identität, Relation und Geschichte“ (Augé, 2010: S. 83) werden sie zu etwas Besonderem.
(2) Aneignen: Man macht sich Plätze zu eigen, wie der Stammtisch einen bestimmten Tisch hat, wie wir beim Italiener immer an einem bestimmten Platz sitzen oder unser Zuhause individuell gestalten – selbst wenn es „nur“ ein gemietetes WG-Zimmer ist.

Diese beiden Facetten der Sinnzuschreibung und Aneignung fügen sich in raumbezogener Identität zusammen: Wir suchen Orte auf, denen wir Sinn zuschreiben, wir suchen uns Lieblingsorte, die uns wiederspiegeln – entweder so, wie wir sind, oder so, wie wir gerne wären. Wir gestalten Orte nach unseren Vorlieben. Der eigenen Gegenwart an an diesen Orten schreiben wir Sinn zu und arbeiten sie in die Narrative unserer eigene Biographie ein im Sinne einer „Biographisierung“ (Lackner-Pilch & Pusterhofer, 2005, S. 282).

Im Film „The Human Scale“ über die Arbeit des Architekten Jan Gehl wird dies deutlich am Beispiel von Christchurch (Neuseeland): Die dort durch eine Naturkatastrophe zerstörten Gebäude sind für die BewohnerInnen bedeutsam, z.B. weil es Orte und Plätze sind, die mit einer bestimmten Geschichte aufgeladen sind, etwa weil man dort immer mit bestimmten Personen war oder sich dort etwas Besonderes ereignet hat. Diese Orte sind als solche nicht wiederherstellbar, aber es lassen sich Gebäude realisieren, die Ansatzpunkte für Sinnzuschreibung schaffen. Uns ist allen klar, dass Straßenschluchten aus uniformierten, glatten Beton-Glas-Fassaden solch eine soziale Aufladung nicht zu fördern vermögen und dennoch werden solche in großem Stil geplant, z.B. in Zürich im Uniquartier.

Zusammenfassung
Für mich bedeutet das: Wir müssen uns bewusst machen, was Menschen in der Stadt brauchen. Sie brauchen funktionale Orte und Infrastrukturen, aber auch persönliche Orte, wir brauchen soziale Nachhaltigkeit der Städte, so dass Menschen sich ein Leben lang dort wohlfühlen, egal in welcher Lebensphase sie gerade stecken. Wir brauchen partizipative Verfahren in allen Phasen von Stadtentwicklung, sei dies die Bedarfsanalyse, das Testen von Lösungsideen oder auch das Evaluieren von neu entwickelten Stadtteilen nach einigen Jahren. Dafür brauchen wir aber auch Fachpersonen, die dies zu leisten vermögen. Die eine solide Ausbildung in den empirischen Methoden der Sozialforschung haben, die ihre Ergebnisse für die Entwicklung von Lösungsansätzen aufbereiten und kommunizieren können. Und wir brauchen Stadtregierungen, die bereit sind, diese Wege zu gehen. (Und natürlich ist auch dies eine verkürzte Darstellung der Anforderungen!)

Quellen
Augé, Marc, 2010: Nicht-Orte. München: Verlag C.H. Beck.
Lackner-Pilch, Angela und Pusterhofer, Maria, 2005: Gestaltung. In: Kessl, Fabian; Reutlinger, Christian; Maurer, Susanne und Frey, Oliver (Hg.), Handbuch Sozialraum, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 279-294.

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4 Gedanken zu “Human Centered Urban Spaces

  1. Heute habe ich noch eine Perspektive entdeckt, die man sicher ergänzen sollte: Cities Changing Diabetes

    Dabei geht es um die Frage, was eine Stadt für uns zu einer Umgebung macht, in der wir uns gesund ernähren.
    Meine Vermutung dabei ist eher, dass es darum geht, wie wir unseren Alltag gesünder gestalten können. Tägliche Arbeitswege von 60-90 Minuten pro Weg (sprich 2-3 Stunden zusätzliches Sitzen in Zügen und Bussen) sind wohl eine Hauptursache für Zivilisationskrankheiten.

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