Dörfi, söli, muesi? Folgegedanken zu widersprüchlichen Environment-Behaviour-Settings

Ich hätte mir nie träumen lassen, dass einmal ein von mir geschossenes Foto das Titelblatt der „ABI Technik“ schmücken würde! Mein dort veröffentlichter Text ist das Ergebnis eines längeren Prozesses, der von ersten Erkenntnissen über Analysen verschiedener Arten der Widersprüchlichkeit hin zu der Fragestellung führt, was wir in der Planung von Lernumgebungen beachten müssen, um diese Widersprüchlichkeiten so weit wie möglich zu vermeiden. Diesen Prozess und Teile der Ergebnisse möchte ich im Folgenden nachzeichnen.

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Titelblatt der ABI Technik, 2019, 39 (1)

Seit einigen Jahren habe ich mich immer wieder mit der Frage befasst, warum manche Lernumgebungen innerhalb und ausserhalb von Bibliotheken nicht so funktionieren, wie sie eigentlich sollten. Ende 2016 hatte ich widersprüchliche Environment-Behaviour Settings erstmals in einem Vortrag an der Bodleian Library Oxford als Nebenthema aufgebracht.

Im Frühjahr 2018 folgte dann im Rahmen eines Vortrags an einer Tagung der AG Erwachsenenbildung und Raum die Auseinandersetzung mit dem theoretischen Hintergrund, den ich hier schriftlich ausführe. Und kurz danach hatte ich die Gelegenheit, die empirischen Ergebnisse nochmal ausführlicher zu beleuchten, zunächst auf der UXLibs IV in Sheffield, danach in der entsprechenden Publikation. Hier lag der Fokus einerseits auf dem empirischen Zugang und den Methoden, andererseits auf Widersprüchlichkeiten bezüglich des Auftretens von Lärm vs. Stille sowie bezüglich der Nutzung von kollaborativen vs. individuellen Arbeitsplätzen. Das Problem entsteht sowohl bei der Lautstärke als auch bei der intendierten Nutzung dadurch, dass für Nutzer*innen nicht klar ist, was sie wo dürfen und was nicht. Verunsicherung und Konfliktpotential sind vorprogrammiert.

All diese Erkenntnisse konnte ich zuerst in einem Vortrag an der ETH-Bibliothek in Zürich zusammenführen und dann im oben genannten Artikel in der ABI Technik verdichten: Wir wissen, was nicht funktioniert und warum es nicht funktioniert.

Widersprüchliche Environment-Behaviour-Settings entstehen, wenn Lernumgebungen entweder auf der Makroebene oder auf der Mikroebene inkonsistent sind.

Inkonsistenzen auf der Makroebene treten auf, wenn ganze Bereiche nicht so gestaltet oder ausgewiesen sind, wie sie genutzt werden sollen. Das passiert, wenn beispielsweise leises Arbeiten erwartet wird, die Plätze sich aber nicht für individuelles Arbeiten eignen, weil sie zu wenig Privatsphäre bieten (etwa durch zu kleine Tische und zu geringe Abstände zwischen den Arbeitsplätzen) oder weil sie in Transitbereichen oder nahe von genuin geräuschvollen Bereichen wie etwa einer Beratungstheke positioniert sind.

Inkonsistenzen auf der Mikroebene betreffen die Gestaltung einzelner Arbeitsplätze, wie z.B. das von mir schon so oft erwähnte Beispiel der Einzelarbeitsplätze, die sich jedoch gemeinsam genutzte Tischlampen teilen müssen.

Wie kann man das nun besser machen? Hier möchte ich bei der Analyse von Lernanlässen ansetzen. Grob lassen sich 6 Lernanlässe unterscheiden (eine Weiterentwicklung und Differenzierung ist in Vorbereitung):

  • Individuell lernen mit kurzer Dauer (max. 1h), dazu gehört Mails prüfen, Informationen zu Lehrveranstaltungen suchen, Notizen machen, Literatur recherchieren, etwas lesen etc.
  • Individuell lernen über längere Zeit (1-2h oder länger), dazu gehört z.B. Prüfungsvorbereitung
  • Mehrheitlich individuell, aber in Begleitung, z.B. einer Lerngruppe lernen mit kurzer Dauer
  • Mehrheitlich individuell, aber in Begleitung, z.B. einer Lerngruppe lernen über längere Zeit
  • In einem Tandem oder einem Team gemeinsam lernen mit kurzer Dauer, dazu gehören Informationen zu Lehrveranstaltungen suchen, Termine abmachen, gemeinsame Recherche
  • In einem Tandem oder einem Team gemeinsam lernen über längere Zeit, dazu gehören gemeinsame Projektarbeit oder die Bearbeitung einer Gruppenaufgabe. Dieser Lernanlass kann auch im Kontaktstudium (sprich: während der Veranstaltungszeit einer Lehrveranstaltung) stattfinden, z.B. im Rahmen von Problem Based Learning oder Forschendem Lernen.

Ziel sollte es sein, vielfältige Environment-Behaviour-Settings entsprechend der Vielfalt der Nutzer*innen und deren Besuchs- bzw. Lernanlässe zu gestalten. Diese Settings sollten so gestaltet sein, dass sie in sich schlüssig sind und weder auf der Makro- noch auf der Mikro-Ebene Widersprüche hervorrufen. Wenn das gelänge, dann wären wir in der Entwicklung von zielführenden und zukunftsfähigen Lernumgebungen an Hochschulen schon einen grossen Schritt vorangekommen. Sicher ist es aus Platzgründen nicht immer möglich, für alle 6 Lernanlässe die entsprechenden Flächen zur Verfügung zu stellen. Dann sind Verzicht und sinnvolle (!) Kombination notwendig. Anstatt zu versuchen, eine eierlegende Wollmilchsau zu entwickeln, lassen sich Lernanlässe clustern und je nach Ort und Kontext die jeweils zentralen Cluster realisieren. Wichtiger als „one size fits all“ ist es, dass die Settings in sich stimmig und erwartungskonform nutzbar sind.

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