Im Juni habe ich am Rande einer Konferenzreise den Idea Store Whitechapel in London besucht – dieser Besuch hat mich so irritiert, dass ich heute noch nicht ganz weiss, wie ich ihn einordnen soll …
Es ist Juni. Das Wetter ist den ganzen Tag schon schön, ich bin positiv gestimmt, vielleicht nehme ich gerade deshalb Eindrücke wohlgesonnen auf. In Kensingtion bin ich losgefahren – die Tube spuckt mich in Whitechapel in einem ganz anderen London aus: Ich fühle mich wie auf einer Orientreise, am Ausgang der Tube reihen sich in einer schmalen Gasse kleine Shops und Restaurants, oft nur wenige Meter breit, aneinander wie auf einer Perlenschnur. Ein wenig kenne ich das von London, aber hier ist das sehr speziell. Von der Gasse komme ich auf die Whitechapel Road und stehe mitten in einem orientalischer Basar. Unmengen Obst und Gemüse liegen aus, riesige Jake-Fruits werden in Einkaufswägen herumgefahren, Kleider hängen in planengedeckten Ständen soweit das Auge reicht. Und die Straße ist gesäumt von Restaurants aller Nationalitäten. Wäre ich auf Reisen, ich würde mich jetzt, um 11 Uhr zu einem frühen Mittagessen hinreißen lassen.
Irgendwie kommt mir das hier alles fehlplatziert vor – und doch ist es stimmig, Männer in langen Gewändern mit Bart, vollverschleierte Frauen, Menschen aus aller Herren Länder. Über den Planendächern kann man die Skyline von London sehen, das Foster-Gebäude prominent in der ersten Reihe.

Whitechapel Underground gehört nicht mehr zur inneren Verkehrszone der Stadt. Der Ideastore liegt in gggesetzter Richtung zur City. Man sieht ihn schon früh, mit seiner vorspringenden, blau-grünen Glas-Fassade, irgenwo zwischen den Marktständen. Ich mache Fotos mit dem Handy, meine Spiegelreflexkamera rauszuholen getraue ich mich seltsamerweise nicht. Ich selbst komme mir total fehlplatziert vor, mit meiner schicken Bluse, Seidenschal und Sonnenbrille.
Vor dem Gebäude des Idea Store stehend fällt mir die schmutzige Fassade auf. Wie lang wohl sind die Fenster nicht mehr geputzt worden? Auch ein zusammengerolltes Nachlager sticht mir ins Auge. Hier liegen Prunk, Protz und Armut so nah beieinander! In was für einer Welt leben wir eigentlich? Ich bekomme wieder einmal den Eindruck, dass mein Zuhause, die Schweiz, eine Insel der Glückseeligen ist.
Der Eingang zum Idea Store ist mir nicht gleich aufgefallen (‚wenigstens‘ das ist wie fast überall…). Im Gebäude muss ich mich erst mal orientieren. Eine Übersichtsliste zu den Stockwerken finde ich erst am Aufzug, komisch eigentlich. Sollte man nicht gerade hier – in einer Bibliothek, die sich auch an bildungsferne Schichten richtet – bemüht sein, die Orientierung so leicht wie möglich zu machen?
Mein Ziel: 4. OG, Cafe und Damen-WC. Liegt es am Stadtviertel oder am kulturellen Kontext, dass hier alles etwas schäbig und schmutzig ist? Die Toilette hat sicher auch schon bessere Zeiten gesehen. Im mässig besuchten Café sind die Tische nicht abgeputzt, die Theke ist voller Krümel, die Espressomaschine nicht gerade vorzeigbar. Aber die Preise sind unschlagbar, der Kaffee gut und fairtraide, das Croissant außen knusprig, innen saftig und noch warm. Herrlich!!! Das Hygienesiegel an der Theke zeigt wohlwollend 4 von 5 Punkten. Bei Sonnenschein durchs Oberlicht und Blick auf die Skyline kann man in der Hinsicht beide Augen feste zudrücken …
Das Publikum ist gemischt, ältere Männer südlichen Aussehens, einer im Rollstuhl, junge Frauen, die wohl zum Lernen verabredet sind, eine Gruppe von vier Frauen, mitten in einem angeregten Arbeitsgespräch. Drei Muslia genießen Tee und Gebäck. Durchs Fenster beobachte ich, wie auf dem Markt grosse Schinken in einem Einkaufswagen herumgeschoben werden.

Ich bin irritiert: Einerseits hat man hier offensichtlich mit erheblichem Aufwand einen Ort schaffen wollen, an dem die breite Öffentlichkeit Zugang zu Medien und Informationen erhält. In einem anderen Stockwerk habe ich gesehen, wie gut genutzt die PC-Arbeitsplätze sind. Und das am Vormittag unter der Woche. Auch die Kinderbibliothek im Erdgeschoss ist gut besucht, es wird gelesen, gemalt und gemeinsam zu Mittag gegessen. Andererseits ist vieles so schäbig gemacht: Die Farbe vom Linoleum-Boden wurde zur Hälfte auf die Lüftungsroste am Fenster gespritzt, die Fassadenfenster sind innen im Atrium sehr, sehr lange nicht mehr geputzt worden. Grundsätzlich ist es eher schmutzig, fast schmuddelig. Ich denke wieder einmal an die sogenannte „Broken Window Theory“, an die „Ortseffekte“ von Bourdieu und deren Weiterentwicklung als „Quartierseffekte“ von Ritterhoff und Volkmann. Mir ist vollkommen klar, dass der Unterhalt eines Bibliotheksgebäudes kostenspielig ist. Aber warum wird so viel investiert, wenn man im Betrieb dann die positiven Effekte einer solchen Institution leichtfertig verspielt?
Nach drei Stunden vor Ort mache ich mich auf den Rückweg – zu Fuss. Kaum überschreite ich wenige hundert Meter vom Idea Store entfernt die Grenze zur City of London, bin ich wieder im Hochglanz-Quartier. Anzugträger, schicke Cafés und Bars, üppige Blumenbouquets rund um Restaurants. Auch nachdem ich mehrere Kilometer an der Themse entlanggegangen bin, kann ich die Irritation immer noch nicht abschütteln. Und bis heute lässt mich diese Erfahrung irgendwie ratlos zurück.
Literatur
Bourdieu, P. (1997). „Ortseffekte“. In: Das Elend der Welt. Bourdieu, P., Konstanz, UVK Universitätsverlag Konstanz: S. 159-168.
Ritterhoff, Frank und Volkmann, Anne, 2014: Quartierseffekte – Forschungsstand, politische Verankerung und Perspektiven. In: Altrock, Uwe; Huning, Sandra; Kuder, Thomas, et al. (Hg.), Zielgruppen in der räumlichen Planung. Konstruktionen, Strategien, Praxis, Berlin: Verlag Uwe Altrock. S. 273-294.
Wilson, J. Q. und Kelling, G. L. (1982): Broken Windows. The police and neighborhood safety. The Atlantic Monthly.