Nach 14 Tagen Soziologie in Oslo (und ein bisschen Urlaub im Anschluss) ist es wohl Zeit für ein Fazit. Die Motivation hinter der Teilnahme an der Summer School „Comparative Social Sciences“ und der Nordic Socilogical Association Conference war zweigeteilt. Zum einen wollte ich meine Methodenkompetenz ausbauen und weitere Auswertungsmöglichkeiten meines Datenmaterials diskutieren, zum anderen wollte ich natürlich die Soziologie in Norwegen besser kennenlernen.
Beides ist wohl gelungen. Nach 5 Tagen Case Study Lectures mit Andrew Bennett bin ich mir sicher, dass ich im Herbst noch einmal mit neuem Blick, neuen Methoden und neuen Tools mein Datenmaterial unter die Lupe nehmen werde. Mir ist ganz besonders aufgefallen, dass meine nordischen KollegInnen empirisch ganz anders ausgebildet werden, als es, soweit ich das beurteilen kann, bei uns der Fall ist (und das obwohl ich davon ausgegangen bin, dass die Methodenausbildung in Konstanz ziemlich gut ist). Hier wird einem Research-Design viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Das Research-Design wird entwickelt, graphisch aufbereitet, auf Konferenzen zur Diskussion gestellt, in Fachjournals publiziert etc. Die nordischen KollegInnen sind regelrecht darauf getrimmt, Research-Designs zu begutachten und ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen.
Die nordische Soziologie ist stark empirisch orientiert. Das zeigte auch der Vortrag der Kollegen Jani Erola & Pekka Räsänen bei der NSA-Conference. Erola und Räsänen untersuchen die Publikationspraxis in 3 führenden nordischen soziologischen Fachjournals in den Jahren 1999-2009. Auffällig hier ist, dass gerade in der international orientierten Acta Sociologica 70% der veröffentlichten Papers der letzten 20 Jahre empirisch sind, wobei ein deutlicher Trend zu erkennen ist zu noch mehr Empirie: 2008/09 waren lediglich knapp über 10% der Papers theoretisch!
Die empirische Ausrichtung der nordischen Soziologie habe ich während meines eigenen Vortrags erfahren dürfen. Bedingt durch eine starke Zeiteinschränkung für die Präsentation von 10 Minuten habe ich auf die Darstellung des methodischen Teils meiner Arbeit verzichtet und lediglich Einblick in die theoretischen Grundlagen und in die Ergebnisse gegeben. Sowohl der in unserer Session „Sociology of Science“ obligatorische Kommentar als auch die Diskussion konzentrierten sich auf Kritik an der nichtdargestellten Empirie.
Mit dieser Erfahrung war ich nicht allein in Oslo. Jean-Pascal Daloz hielt einen großartigen Key-Note Vortrag „Rethinking Social Distinktion“. Die Fragen in der offenen Diskussion bezogen sich stark auf das Research Design: Wo ist das Research Design? Wie hat Daloz seine Studie aufgebaut? Er würde über Aufenthalte in den unterschiedlichsten Ländern sprechen, allerdings nicht von Feldforschung – wieso? Welche Methoden setzt er ein? etc.
Soweit ich das beurteilen kann geht Daloz nicht in der Weise strukturiert vor, wie es dem nordischen Duktus entsprechen würde. Das wiederum entspricht nicht den Erwartungen eines Auditoriums bei einer NSA-Konferenz.
Was kann man daraus lernen: Soziologie in den nordischen Ländern ist stark empirisch orientiert. Wer hier einen Vortrag hält, sollte sich bewußt sein, dass auf eine höchstmögliche empirische Transparenz geachtet werden muss. Am besten stellt man Forschungsfragen, Fallauswahl, Feldzugang und Methoden in Form eines kompakten Research Design vor. Für die deutsche Soziologie mag das ungewohnt sein, bereichernd ist es allemal.
Anzumerken bleibt, dass dies alles unsystematische Beobachtungen auf einer höchst subjektiven Basis sind 😉
Vielen Dank für deinen kleinen Einblick, klingt spannend. Eine Frage – was genau meinst du mit „Hier wird einem Research-Design viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet“. Dass sie stärker auf die Planung des Forschungsvorhabens achten als auf die tatsächliche Durchführung?
Liebe Nadine,
meine Erfahrung bei allen Vorträgen, den Kommentaren zu diesen Vorträgen und im persönlichen Austausch ist, dass das Research-Design viel mehr Aufmerksamkeit erhält, als ich es in Deutschland gewohnt bin. In Oslo war das (vorwiegend qualitative!) Research-Design in Vorträgen ein ganz zentraler Bestandteil. Da wird nicht nur kurz auf die Forschungsfrage und einen kurzen Abriss der Methoden eingegangen, sondern viel Wert darauf gelegt, dass z.B. die Fallauswahl theoretisch fundiert und regelgeleitet durchgeführt wird. Wie sieht die Grundgesamtheit aller Fälle aus? Warum wurden gerade diese Fälle ausgewählt? Was sind das für Fälle? Typische, kontrastive etc. Wie werden Vergleiche in Fallstudien durchgeführt? Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass die Auswahl der Methoden und ihre Anwendung begründet und transparent gemacht wird. Wie sind die Feldaufenthalte gestaltet? Wie werden Beobachtungen gemacht? Das alles gehört zum Forschungsdesign. (Es umfasst also auch die konkrete Durchführung) Die der Arbeit zugrunde liegende Theorie tritt hinter das Forschungsdesign zurück und erscheint, m.E. lediglich im Rahmen der Relevanzbegründung von größerer Bedeutung.
In Deutschland hatte ich bisher den Eindruck, dass die Empirie, gerade in der qualitativen Soziologie, intransparent bleibt. Der Fokus liegt vielmehr auf der theoretischen Fundierung eines Projektes und auf den Ergebnissen. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, es seinen exemplarisch zwei Dissertationen aus der Raum- und Architektursoziologie genannt:
Frers, Lars. 2007. Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals. Bielefeld: transcript.
Hilger, Christina. 2011. Vernetzte Räume. Plädoyer für den spatial Turn in der Architektur. Bielefeld: transcript.
Danke für die Erläuterung. Sehr spannend, ich bin nämlich mehr auf quantitative Empirie spezialisiert und da ist es ja schon eher üblich, dass die Methodenwahl begründet wird usw. Jedenfalls lernen wir es in Mainz so. Vielen Dank auch für die Literaturhinweise.