Stuttgarts neuer Bildungstempel: Die Stadtbibliothek am Mailänder Platz

Letzte Woche Montag eröffnete die Stuttgarter Stadtbibliothek am Mailänder Platz nach drei Jahren Bauzeit ihre Portale. Die Metaphern für den Bau des koreanischen Architekten Eun Young Yi sind vielfältig: Medientempel, Büchertempel, Bücherwürfel, aber auch prison library (aus einem meiner Interviews zu Bibliotheksarchitektur in Oxford), das neue Stammheim (gemeint ist die JVA Stuttgart) …

Am vergangenen Dienstag nutze ich die Gelegenheit für eine Ortsbegehung inkl. einer Führung durch das Haus, deren Ziel es war, das architektonische Konzept zu vermitteln. Meine ersten Eindrücke möchte ich im Folgenden zusammenfassen.

Der im Herbstlicht grau schimmernde Bau der Stadtbibliothek ist schon aus der Entfernung sichtbar, die Assoziation prison library drängt sich auf.

Stadtbibliothek am Mailänder Platz, Stuttgart, 2011

Die Symbolik des Baus ist wohl für den nicht mit der asiatischen Kultur vertrauten Europäer nicht erkennbar. Die dem Bibliothekswürfel zugrunde liegende Form des Quadrats versinnbildlicht das Irdische. Die Ausrichtung folgt streng den Himmelsrichtungen. Die 3 als magische Zahl wird potenziert: 3×3 Fenster breit und genauso lang und tief ist das Gebäude. Hier verbindet sich das Magisch-Göttliche mit dem Irdisch-Menschlichen. Es ist ein Bildungstempel, die magische Symbolik ist gewollt. Die Bibliothek als sakralisierter Raum, als Tempel des Wissens.

Doch die Architektur transportiert auch die asiatische Bildungskultur: Drill, Gehorsam, Rezipieren. Autoritäre Bildungseinrichtungen. Die Außenfassade ist glatt, klar geformt, ermöglicht keine Reibung. Kritik prallt ab, Kreativität auch. Ein Gebäude, dass nach außen verschlossen ist, sich nicht – und das ist vom Architekten so gewollt – den BesucherInnen entgegen öffnet.

Eingang, Stadtbibliothek am Mailänder Platz, 2011

Der Eingang fügt sich so perfekt in die Fassade ein, dass er von weitem kaum erkennbar ist. Der Schriftzug „Stadtbibliothek“ ebenso wie das internationale „Willkommen“ (mehrsprachig) sind erst kurz vor dem Betreten lesbar.

Innen überrascht die in weiten Teilen gut gelungene Informationsarchitektur. Klare Beschriftungen der Stockwerke, Lagepläne und Regalbeschriftungen erleichtern die Orientierung und Navigation.

Einzelne Räume sind mit Verben beschriftet, welche die Tätigkeit in diesen Räumen verdeutlichen: „Zuordnen“ und „Einordnen“ für den Servicebereich, „Begegnen“ für Kommunikationszonen. Dem entgegen steht leider das hochtrabende, an die mittelalterliche Bildungselite erinnernde „Skriptorium“, welches hier aus einem PC-Pool besteht. Auch diese kulturell-historische Verbindung mag wohl kaum für alle BürgerInnen naheliegend sein.

Skriptorium, Stadtbibliothek am Mailänder Platz, 2011

Leider bietet dieser Bibliotheksbau, trotz vieler begrüßenswerter Ansätze, keine Raumqualität im Sinne von Wohlgefühl und Gemütlichkeit. Selbst der Kinderbuchbereich wirkt steif, kühl und distanziert. Zum Gesamteindruck passt der Kommentar von Frau Bussmann (Direktorin), dass die Stadtbibliothek sich gezielt zwischen den niedrig-schwelligen Stadtteilbibliotheken und den wissenschaftlichen Bibliotheken positionieren will. Aber auch aus der Perspektive der so eingeschränkten Zielgruppe ist das Raumkonzept schwer erfassbar. Die große leere Halle in der Mitte der Bibliothek wird von der Bibliotheksleitung als „Herz“ bezeichnet, vom Architekten als „Ort der Stille“. Es ist dort weder still, noch spürt man den Herzschlag einer Bibliothek. Vielmehr ist der Raum kahl, leer und von unzähligen Geräuschquellen beschallt.

Galeriesaal, Stadtbibliothek am Mailänder Platz, 2011

Umberto Eco schreibt in „Die Kunst des Bücherliebens“:

„[D]ie Bibliothek ist nicht eine Summe von Büchern, sondern ein lebendiger Organismus mit eigenem Leben.“ (München, 2011, S. 44)

In wie weit das in Stuttgart klappen wird, wird die Zukunft zeigen.

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6 Gedanken zu “Stuttgarts neuer Bildungstempel: Die Stadtbibliothek am Mailänder Platz

  1. Am 3.12.2012 schreibt Robert Kaltenbrunner (Architekt und Publizist, Bundesinstitut für Bau-, Stadt-, und Raumforschung in Bonn/Berlin) in der NZZ (Feuilleton, S. 37) über die „Zersplitterung der Gebäudeform in ein diffuses Inneres und ein frei komponiertes Äusseres“. Thematisiert wird, dass uns heute das Äußere eines Gebäudes nur noch wenig (wenn überhaupt) Aufschluss gibt über die Funktion des selbigen. Zur Bibliothek am Mailänder Platz:
    „Die isolierte Präsenz eines Würfels von etwa vierzig Metern Kantenlänge und einer fast unbeugsamen Symmetrie – neun mal neun Öffnungen je Seite, alles quadratisch und identisch – ist durchaus eindrücklich. Doch was sagt dieser quasimathematische Minimalismus über das aus, wofür das Gebäude steht und was in seinem Innern passiert?“

    Was weiter folgt, ist eine Kritik des Erweiterungsbaus des Stedelijk-Museums in Amsterdam, könnte aber auch zu Stuttgart passen:
    „An seiner milchig glänzenden Kunststoffhaut perlt alle assoziative Bezugnahme zu seinem Inhalt einfach ab.“

    Ich für meinen Teil wünsche mir Gebäude – vor allem im Bildungsbereich – , die von aussen in ihren Dimensionen zumindest ansatzweise erschließbar sind und die mir Aufschluss darüber geben, was in ihrem Innern von statten geht. Schulen, die wie Schulen aussehen, Bibliotheken, die wie Bibliotheken aussehen, Kindergärten, die wie Kindergärten aussehen.

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