Zu Fuss über die Alpen – eine neue Raumwahrnehmung

Alpüberquerung
Route Alpüberquerung (2015)

Knapp 12 Tage sind wir – Benjamin und ich – zu Fuss gegangen, von Oberstdorf im Allgäu über fünf Alpenkämme bis nach Meran in Südtirol. 230 km und über 11.600 Höhenmeter haben wir zurückgelegt. Der Alpenraum ist für uns jetzt nicht mehr der gleiche wie zuvor. In den folgenden Zeilen möchte ich aus raumsoziologischer Perspektive darlegen, wie sich für unsere Raumwahnehmung verändert hat.

Viele Orte auf dieser Reise waren uns schon vertraut, vom Wandern oder vom Skifahren, so etwa Oberstdorf, wo unsere Tour begann, oder auch das Pitztal oder Schenna in Südtirol. Aber viele Orte sind auch dazugekommen – und nicht nur diese. Es hat sich vieles für uns verändert, mit Martina Löw (Raumsoziologie, 2001)[1] gesprochen ist nicht nur das Spacing anders geworden, sondern auch die Syntheseleistung. Wir haben „unserer“ Alpenkarte nicht nur viele Orte hinzugefügt (Spacing, vgl. Löw, 2001, S. 158), sondern vor allem auch Verbindungen zwischen diesen Orten, derer wir uns bisher nicht bewusst waren, dass sie überhaupt existieren. Wenn ich mir die Alpen vorstelle, dann sehe ich jetzt eine Reihe von Alpenkämmen und Tälern, die miteinander verbunden sind. Ich weiß nun, dass ich beispielsweise aus dem Inntal ins Kaunertal laufen kann, ohne große Höhen überwinden zu müssen. Gehe ich jedoch vom Kaunertal direkt über den Kaunergrat ins Pitztal, so erwarten mich Schneefelder, tauender Permafrost, Gletscher, Geröllmuren und Klettersteige. Meine Syntheseleistung (die Zusammenfassung von Gebirgsensembles, Tälern und Dörfern zu Räumen, vgl. Löw, 2001, S. 159) ist eine andere, ganzheitlichere als zuvor. Aus einer verinselten Wahrnehmung von Einzelräumen ist eine Wahrnehmung eines Abschnittes der Alpen als Gesamtes, aus unbekannten, bisher irrelevanten Verbindungen sind wahrgenommene, begangene Wege geworden (vgl. zum Insel-Modell Deinet und Reutlinger, 2005 [2]).

Treffend sagt es auch Reinhold Messner im Interview mit der Zeit (16. Juli 2015): „Ein Kletterer, der unter einer Steilwand steht und in Gedanken eine Linie durch den Fels zieht, geht vor wie ein Maler an der Staffelei. Nur dass er sein Werk nicht mit dem Pinsel umsetzt, sondern mit Griffen und Tritten. Danach ist die Wand eine andere, er hat sie verwandelt.“[3]

Wir haben uns den Abschnitt der Alpen, den wir zu Fuss überquert haben, angeeignet im Sinne dessen, dass wir ihn uns erschlossen und für uns auf begriffen haben. „Aneignung impliziert das aktive Handeln des Subjektes, seine Auseinandersetzung mit der räumlichen und sozialen Umwelt“.[4] Das bedeutet auch, dass wir immer wieder mit Erstaunen festgestellt haben, welch weite Wege wir zu Fuss an einem einzigen Tag bewältigen können. So standen wir auf den besagten Alpenkämmen, mit Blick zurück und voraus, mit Staunen über den zurückgelegten Weg und das Kommende. Die Wahrnehmung hat sich – durch die bewusste, aktive, auch mühsame Aneignung – verändert. Orientierung und Navigation sind wesentlich besser geworden.

Kaunergrathütte aus der Ferne
Kaunergrathütte aus der Ferne, nach ca. 2h Fussmarsch (rot umrandet)

Aus dieser Erfahrung heraus kann ich nur empfehlen: Geht zu Fuss, fahrt mit dem Fahrrad. Eignet Euch den Raum an, durch ein absolut wörtlich zu verstehendes „Begreifen“!

 

[1] Löw, Martina, 2001: Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
[2] Deinet, Ulrich und Reutlinger, Christian, 2005: Aneignung. In: Kessl, Fabian; Reutlinger, Christian; Maurer, Susanne und Frey, Oliver (Hg.), Handbuch Sozialraum, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 295-312.
[3] Reinhold Messner, in: Wolf Alexander Hanisch (16.07.2015): Das Berg-Werk. In: Die ZEIT, 2015 (29), S. 51-52.
[4] Deinet, Ulrich und Reutlinger, Christian, 2005: Aneignung. In: Kessl, Fabian; Reutlinger, Christian; Maurer, Susanne, et al. (Hg.), Handbuch Sozialraum, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 295-312. S. 295.

2 Gedanken zu “Zu Fuss über die Alpen – eine neue Raumwahrnehmung

  1. Grenzen sind sozial konstruiert!
    Das wollte ich noch anmerken, ich hatte es beim Artikel-Schreiben vergessen. Mir ist das auf dem Timmelsjoch so deutlich geworden, wie selten. All die Tage, die wir Bergkämme bewältigt haben, hatten wir oben auf dem Kamm, auf der Scharte oder der Lücke immer das Gefühl, auf der Grenze zwischen zwei Tälern zu stehen. Das Gefühl hat man im Tal nicht so sehr, man denkt nicht „jetzt steh ich zwischen zwei Bergkämmen“, das hat es nur oben, auf dem Berg. Diese Grenze ist eine natürlichliche Grenze und vermutlich ist dieses Gefühl verbunden mit der erbrachten sportlichen Leistung und der veränderten Sichtweite, sobald man oben auf dem Kamm ankommt und endlich ins nächste Tal hineinsehen kann.
    Am Timmelsjoch war es anders. Ich war nicht froh, oben zu sein, sondern ich wollte unbedingt noch weiter – hinter den Grenzstein zwischen Österreich und Italien. Plötzlich war das Ziel nicht mehr der höchste Punkt, die Grenze zwischen dem einen und dem anderen Tal (das Timmelsjoch ist ja auch noch Teil der Europäischen Kontinentalwasserscheide! Das Wasser in Südtirol fliesst in die Adria, das in Österreich ins Schwarze Meer). Seltsam, wie präsent plötzlich so eine territoriale Gemarkung ist, vorher war das egal.

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